600 Jahre Pfarrkirche St. Stephan in Gonsenheim
von Hermann-Dieter Müller
Über die katholische Pfarrkirche in Gonsenheim ist schon häufig geschrieben worden. Die Autoren haben natürlich aus denselben Quellen geschöpft. Deshalb kann ich mich auf eine Kurzfassung beschränken, wobei ich mich mit einigen historischen Aspekten befasse. Im letzten Abschnitt, der sich mit dem Bau des „Rheinhessendoms“ beschäftigt, habe ich wichtige Ergebnisse des Vortrags von Dr. Caspary im Geschichtsverein vom Juni 2006 eingearbeitet.
Die erste schriftliche Erwähnung der Dorfkirche von 1401 und ihr Standort
Vom 11. Jahrhundert bis zum Ende des geistlichen Mainzer Kurstaates am Anfang des 19. Jahrhunderts war der Dompropst und Patronatsherr von Gonsenheim. In dieser Funktion hatte er zwar das Recht auf den Zehnt und die Einsetzung des Schultheißen, aber auch gewisse Pflichten, wie zum Bau und zur Erhaltung der Pfarrkirche beizutragen.
Die erste schriftliche Erwähnung eines Gonsenheimer Pfarrers stammt aus dem Jahre 1360. Eine Gonsenheimer Kirche kommt erstmalig im Güterverzeichnis des Stifts St. Peter in Mainz vor, in dem es für 1401 heißt: „dry morgen wingardt gelegen in Gunsenheimer marken bey der Kirchen.“ Dieser in der Nähe der Kirche gelegene Weinberg wurde verpachtet, als Zeuge fungierten ein Peter von Köln, Pfarrer in Gonsenheim. Eine erstmalige Erwähnung einer Sache bedeutet immer, dass sie vorher schon existiert haben muss. Eine Gonsenheimer Kirche ist also wesentlich älter. Doch auf Grund der ersten schriftlichen Erwähnung hätte die Gonsenheimer Pfarrgemeinde im Jahre 2001 die 600-Jahrfeier von St. Stephan feiern können.
Es kann aber nur eine kleine Dorfkirche für etwa 200 „Gunsenheimer“ gewesen sein. Das Liebste, was der Gonsenheimer Christ besaß, also die Kirche, in die er zum sonntäglichen Gottesdienst ging und wo die entscheidenden Feiern seines Lebens wie Taufe, 1. Kommunion und Eheschließung stattfanden, in dessen Kirchgarten man ihn beisetzte, wurde auf einem leicht erhöhten Platz errichtet, so dass das manchmal über das Ufer tretende Wasser des Gonsbachs und des Grabenbachs das kirchliche Areal nicht erreichen konnte. Das Ortsbild legt den Schluss nahe, dass der erste Ortskern aus dem dichter besiedelten Bezirk auf dem Pfarrhügel bestanden hat. Die kleinen Häuser duckten sich um die Kirche herum und waren von einer Befestigung umgeben, wie sie später auch um das größere Straßendorf als „Landwehr“ nachweislich existiert hat. Dazu reichte ein Wall, bepflanzt meist mit Hainbuchen, die gekappt wurden, so dass sie in die Breite wuchsen. In die Zwischenräume wurden dornige Sträucher gesetzt, so dass ein Durchkommen unmöglich war.
Kirchenerweiterungen durch den Dompropst als Dorf- und Patronatsherrn 16.-18. Jahrhundert
1524 erbat die Gonsenheimer Gemeinde vom Mainzer Domkapitel eine größere Kirche, da die Gemeinde zahlenmäßig zugenommen habe. Auch wenn der Wunsch während der Zeit der Reformation, der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges nicht erfüllt werden konnte, so wurden doch Reparaturen vorgenommen. Das Gerichtsbuch vermerkte den Kauf von drei schweren Glocken, doch bei dem hohen Gesamtgewicht musste auch ein entsprechender Glockenturm existiert haben. Die dem heiligen Stephan geweihte große Glocke zeigte ein Wappen mit dem Bild des Heiligen und der Umschrift: „Sigillum des ersamen Gerichts zu Gonsenum.“ Dies ist ein Beweis, dass das Siegel der Kirchengemeinde, wie es am Südeingang der Kirche stark vergrößert zu sehen ist, mit der Umschrift „... SIG PAR CATH ... „ („PAR“ von parochia = Kirchengemeinde), auch von der politischen Gemeinde benutzt worden ist.
Ein Neubau von St. Stephan in zwei Bauabschnitten hat es schon einmal gegeben. Im Jahre 1686/87 wurde das Längsschiff neu errichtet. Das Wappen des damaligen Mainzer Dompropsts und damit Gonsenheimer Orts- und Patronatsherrn und daher zuständig für den Kirchenbau, Marquard II., Schenk von Castel, der auch 1636-1685 Bischof von Eichstätt war, ist noch heute unter dem Fenster des südlichen Querschiffs zu sehen, der Pfarrstraße zugewandt. Nach einer Gemeinderechnung kostete der Neubau 1445 Gulden, von denen der Dompropst 400 (deshalb auch heute noch das Wappen) und Johann Ludwig 200 Gulden spendierte, während die Gemeinde beim Domkapitel 400 Gulden lieh. 1713 wurden ein neuer Chor und ein neuer Turm hinzugefügt, die der Dompropst Freiherr von der Layen Nickerich zu 2/3 bezahlte.
Eine abermalige Vergrößerung gelang im Jahre 1733, weil „das Volk sich vermehrte“ („Aucta gente“), wie es noch heute eine lateinische Inschrift über dem Portal auf der Seite des Kirchgässchens bezeugt. Auch der Name des Dompropsts wird genannt: „sub gratiosis favoribus“ „durch die besondere Gunst“ des „Hugo Franz Carl von Elz“.
Geänderte Verhältnisse im 19. Jahrhundert
Kirchenbau als Gemeindeangelegenheit, Bevölkerungsexplosion und Zwang zur Vergrößerung
Gerade im 19. Jahrhundert stieg die Einwohnerzahl so explosionsartig, dass eine Vergrößerung notwendig geworden war. Doch nach dem Ende des Mainzer Erzstifts, der Säkularisierung des Kirchguts unter französischer Herrschaft und damit der Überführung in den Besitz der Ortsgemeinde gab es keinenDompropst, der als Orts- und Patronatsherr für den Kirchenbau zuständig war. Jetzt musste die Kirchengemeinde den Kirchenbau selbst meistern, für die Finanzierung sorgen und sich um Architekten und Pläne bemühen. Zur Hilfe bei der Finanzierung hatte die neue großherzoglich hessische Administration in Darmstadt einen allgemeinen Kirchen- und Schulbaufonds eingerichtet.
Spenden wurden gesammelt , verschiedene Architekten sollten Pläne ausarbeiten, u. a. Opfermann, der als Vertreter des Basilika- bzw. Rundbogenstils galt. St. Kilian in Kostheim wurde 1834-1836 im Stil Opfermanns mit Rundbögen, aber einschiffig erbaut. Die Finther Kirche dagegen entstand im Basilikastil, doch nur mit einer Flachdecke. In Gonsenheim aber waren in 10 Jahren nur 8.000 Gulden an Spenden eingegangen, noch nicht einmal ein Viertel der errechneten Gesamtbausumme von 40.000 Gulden. Auch von der Ortsgemeinde wurden keine Zuschüsse erwartet, da bei der starken Bevölkerungszunahme andere Prioritäten gesetzt wurden, wie z. B. der Schulhausneubau.
Schon Pfarrvikar Ludwig erbat 1864 Abhilfe beim Kreisamt. Nicht einmal ein Drittel der 2.700 Gemeindeglieder fänden Platz in der Kirche, so dass sie bei Wind und Wetter im Freien stehen müssten. Da Finthen 6.000 Gulden Zuschuss erhalten hatte, erhoffte er sich für die größere Gonsenheimer Gemeinde 9.000 Gulden aus dem Fonds. Die wurden auch vom Kreisamt bewilligt, aber nur in jährlichen Raten von 1.000 Gulden. Darauf konnten die Gonsenheimer nicht warten.
Inzwischen hatte die Gemeinde weiteren Baugrund für eine Erweiterung erworben. Als 1849 zwei Scheunen neben der Kirche durch Brand zerstört wurden, kaufte der Kirchenvorstand die Bauplätze für 300 Gulden. Im schlimmen Jahr 1866 brannten zwei benachbarte Gehöfte ab, wodurch auch der Turm und drei Glocken den Flammen und der entstehenden Hitze zum Opfer fielen, eine Choleraepidemie forderte fast 100 Todesopfer, der Gemüsehandel lag darnieder, weil aus einem „verseuchten“ Ort keine Lebensmittel ausgeführt werden durften, und preußische Soldaten waren wegen des preußisch-österreichischen Krieges einquartiert. 1867 wurden die abgebrannten Gehöfte abgetragen, um weiteres Baugelände zu schaffen, der Kirchturm wurde mit einem Helm wieder aufgebaut und die zerplatzten Glocken umgegossen. Für einen Neubau war aber kein Geld mehr übrig.
In seiner Ostersonntagspredigt von 1868 trat der vier Jahre zuvor eingesetzte neue Gonsenheimer Pfarrer Dominikus Grimm mit einem neuen Plan auf, der das Problem endgültig lösen sollte: einem unverzichtbaren Neubau in zwei Schritten. Gegen den sofortigen vollständigen Abriss und den anschließenden Neubau sprachen einige Gründe: für eine längere Zeit gäbe es kein Gotteshaus und die erforderliche Summe Geldes sei nicht vorhanden. Außerdem seien viele Gemeindeglieder zu sehr mit der alten Kirche vertraut, Gott habe auch ihre Zerstörung bei zwei Bränden nicht zugelassen.
Konkret hieß das: das Hauptschiff und der Turm blieben erhalten, nur der Westgiebel wurde entfernt und ein Querschiff mit Hauptchor und Nebenchören errichtet. Die Kirche bildete so die Form eines Kreuzes.
Weil zuwenig Geld vorhanden war, forderte Pfarrer Grimm die Gemeinde zu einem einmaligen Verzicht auf. Der gesamte Schmuck sollte zugunsten „einer Herrlichen Wohnung für Jesus“ geopfert werden. Frauen bräuchten ohnehin nur einen Ehering und ein Kreuz als Halskette. Nach dem Plan des Dombaumeisters Wessiken wurde ab 1868 im Stil der Neugotik mit preiswerten Backsteinen gebaut. Die Kirche wurde außerdem nicht verputzt, was dem romantischen Ideal der Steinsichtigkeit nahe kam. Wegen des deutsch-französischen Krieges zögerte sich der Bau und die Weihe durch den Mainzer Bischof Emmanuel Freiherrn von Ketteler bis zum 9. Oktober 1872 hinaus.
1905 konnte Architekt Ludwig Becker, ab 1909 Dombaumeister, der in einem Sommerhaus in Gonsenheim wohnte, mit dem 2. Bauabschnitt beginnen. Er hat die ursprünglichen Pläne Wessikens übernommen und nur wenig geändert, um die Einheitlichkeit des Gesamtbaus zu wahren. So sind heute die unterschiedlichen Bauabschnitte nicht wahrnehmbar. Die einzige Änderung im Kirchenschiff sind die Rundpfeiler, so dass ein besserer Blick für die Gottesdienstbesucher erreicht wurde. Das alte Kirchenschiff und der Turm wurden abgerissen und ein neues Hauptschiff mit zwei Seitenschiffen und zwei Türmen am neuen Querschiff errichtet. Entgegen den Basilikavorstellungen Opfermanns entstand so eine neugotische Hallenkirche.
Der größte Unterschied zum alten Plan besteht in der Entscheidung für eine Zweiturmfassade. Dr. Caspary fand heraus, dass diese Neuerung erst in den Plänen und Zeichnungen nach 1903 auftrete. Seine Begründung lautet deshalb: Der Architekt wollte der katholischen Kirche nach dem Neubau der evangelischen Kirche 1903 auf erhöhter Position am Ende der Kaiserstraße (Breite Straße) eine herausragende Rolle im alten Ortsteil zuweisen.
Bisher haben wir immer wieder folgende witzige Anekdote über Pfarrer Grimm erzählt. Er habe die Gemeinde zu noch mehr Spenden aufgefordert mit dem Ausspruch: „Was, ihr Gonsenheimer, ihr wollt nur einen Turm. Nur einen, wie die Finther!“ Der Geldsegen sei darauf reichlich geflossen.