Die elektrische Bahn nach Gonsenheim - Eine Glosse des „Mainzer Anzeigers“ vom 11. Juni 1907

(Ein Städter äußert sich ironisch, doch sehr poetisch, über die Konkurrenz der Dampfbahn der „Süddeutschen Eisenbahngesellschaft“ und der elektrischen Straßenbahn. Die Landschaftsbeschreibung bei einer Fahrt mit der „Elektrischen“ nach Gonsenheim muss man einfach gelesen haben. Wo heute alles zugebaut ist und immer weiter verdichtet wird, war einst freie sandige und waldige Natur, die den Blick in die romantischen Taunusberge frei ließ. Auf der anderen Seite fuhr der Fahrgast an dem „in sommerlicher Fruchtbarkeit prangenden Mühltal“ vorbei, „dessen Bild einen anmutigen Abschluß in dem Höhenzug des Hardenberg findet. Fühlt man sich hier nicht in eine liebliche Gebirgslandschaft versetzt?“ Der Fettdruck ist zur besseren Gliederung des Gesamttextes gedacht.)

Nun liegt der Fahrdamm der Gonsenheimer Kaiserstraße, der ein paar Wochen lang ein Bild arger Verwüstung bot, wieder blank und eben da, blank freilich nur für den, der über einen tüchtigen Fond verklärender Phantasie verfügt. Das Schienenchaos hat sich gelichtet: friedlich laufen die beiden Gleise nebeneinander her: in ihrem einträchtigen Parallelismus ein schönes Sinnbild der guten Beziehungen, die gegenwärtig zwischen der Stadt Mainz und der Süddeutschen Eisenbahngesellschaft bestehen. Die schlanken, rotbraunen Maste der elektrischen Bahn harmonieren vortrefflich mit den grünen Büschen und Bäumen der Vorgärten, vor denen man sich aufgepflanzt hat, und die starken Kupferdrähte, die die mystische Triebkraft leiten, durchschneiden, von dem Glanze der Junisonne bestrahlt, die Luft wie feurige Linien. Heute ist die polizeiliche Abnahme der Linie erfolgt, und da man kaum annehmen kann, dass eine Hand sich erhoben hat, um dem blitzbeseelten und blitzsauberen Fahrzeug Einhalt zu gebieten, so werden die ausflugslustigen Mainzer schon am nächsten Sonntag die eleganten elektrischen Wagen benützen können, um in den Gonsenheimer Wald zu fahren.

„Das Alte klappert, das Neue klingt!“ Sehr rasch wird man deshalb der „Süddeutschen“ untreu werden und das Geklingel der Elektrischen dem Geklapper der Dampfbahn vorziehen! – Und doch! Ob man auch tausendmal behauptet hat, daß schon der Neandertalermensch bessere Beförderungsmittel besessen hätte, als sie dem Fahrgast der „Süddeutschen“ zu Gebote stehen, ob auch Millionen Flüche auf die „Spottgeburt von Dreck und Feuer“ niedergedonnert sind, die „wie ein langschweifiger Drachen mit flammenspeiendem Rachen, angreifsweis schiebend die Schuppengelenke“ sich durch die Straßen der Stadt Mainz wälzt: - der Welt geht doch wieder ein Stück echter Romantik verloren, wenn das Bimmelbähnchen einmal, als Opfer der idylleverschlingenden Elektrizität, für immer unserem Gesichts-, Gehör- und Geruchssinn entrückt wird. Denn als Bastard-Vehikel, hervorgegangen aus einer Kreuzung des modernen Dampfrosses mit der Thurn- und Taxischen Postschnecke, bildet es so recht ein Bindeglied zwischen unserer aufgeregten, von der elektrischen Geißel unaufhörlich vorwärts gepeitschten Zeit und jenen schönen, leider für immer versunkenen Tagen, in denen das Wort „Gemütlichkeit“ seinen Kredit noch nicht verloren hatte in den deutschen Landen. Oder ist es nicht urgemütlich, die Balgerei mitanzusehen, die sich jeden Mittag nach 12 Uhr am „Neuen Brunnen“ entspinnt, wenn es gilt, sich einen Platz im Sommerwagen zu ergattern? Sehr leicht könnte die „Süddeutsche“ diesem Geknäul und Geknuff, diesem Gedräng und Gedrück, dieser heißen Bubenschlacht ein Ende machen, die sich oft noch in den Wagen fortsetzt und dort mit Büchern und Atlanten, mit Mützen und Reißschienen ausgefochten wird. Sie brauchte nur an heißen Tagen statt des einen mehrere offene Wagen in den Zug einzustellen. Aber das tut sie nur dann, wenn das Quecksilber in dem Thermometer um den Nullpunkt herumlaviert und dabei noch ein unendlicher Regen herabströmt. Dann stürzen sich natürlich alle Fahrgäste auf die zwei oder drei geschlossenen Wagen, die vorhanden sind, und diese füllen sich infolge des starken Andrangs derart, daß man es vor „Gemütlichkeit“ schier nicht mehr aushalten kann. Aber das ist noch gar nichts gegen die Romantik, die sich an trüben, feuchten Wintertagen in den Wagen der Süddeutschen breit macht. Draußen brütet die Nacht von 4 Uhr nachmittags bis 9 Uhr morgens in den Feldern. Drinnen aber geht dem, der empfänglich ist für die Poesie dieser Scheußlichkeit, das Herz auf, wenn die schwälenden Petroleumlampen und die immer rauchenden Öfen ihre Wohlgerüche mit dem zarten Parfüm vereinen, das den nassen Kleidern entströmt, und wenn sich all‘ die Dämpfe und Dünste, die sich in dem Wagen entwickeln, zu dicken Wolken zusammenballen und schwer „wie das Bewußtsein eines Mordes“ auf den Häuptern der Insassen lasten. Solche romantischen Empfindungen vermag eine Fahrt in der „Elektrischen“ doch nicht wachzurufen, und neidisch wird deshalb mancher Fahrgast, der glatt und flott durch das Tal dahingleitet, nach der Höhe hinausschauen, wo die Dampfbahn, in einen dicken Mantel von Qualm und Ruß gehüllt, wie ein mittelalterlicher Spuk, sich pustend und fauchend vorwärts rackert.

Aber getrost! – Auch die Fahrt in der Elektrischen hat ihre Reize ... Sie beginnen schon am Bahnwärterhaus Nr. 39, wo der Kaiser bei den Paraden auf dem Sand seinen Sonderzug zu verlassen pflegt. Links das obstbaumreiche, in sommerlicher Fruchtbarkeit prangende Mühltal, über dem noch vor wenigen Wochen duftige Blütenwolken schwebten und dessen Bild einen anmutigen Abschluß in dem Höhenzug des Hardenberg findet: - fühlt man sich hier nicht in eine liebliche Gebirgslandschaft versetzt? Rechts dagegen: das sandige, teils wellenförmige, teils ebene Gelände mit seinen malerischen Gruppen verkrüppelter Kiefern: erinnert es uns nicht an eine nordische Steppe, über der der Raubvogel krächzend seine Kreise zieht? Und nun weiter links: aus grünem Blattgewirr hervor lugen freundlich die Mühlen, an denen der Gonsbach traulich murmelnd vorüberwallt. Leider sind jedoch seine Wasser nicht immer kristallklar, sondern zuweilen so braun und dick und steif, daß sie einer sich mühsam dahinwälzenden Linsensuppe verzweifelt ähnlich sehen. Aber der Fahrgast der Elektrischen bekommt den Bach kaum zu sehen, geschweige denn ihn zu riechen! Denn die Bahn biegt rechts ab, und durch ein Stück Kiefernwald geht es bergan, bis der große Sand sich vor unseren Blicken ausbreitet. Und auch er, der allgemein als der Inbegriff der nüchternsten Prosa gilt, hat seine poetischen Momente, wenn auch nicht für den, der, ganz ohne inneren Drang, mit gepacktem Tornister Parademarsch in Zügen übt und die Welt rings um sich durch das Prisma seines nicht besonders heiteren Gemüts betrachtet. Aber im Hintergrunde, die Taunusberge, deren feine Konturen in dem Blau des Himmels verschwimmen, sind immer ein schöner Anblick, wenn man sie sieht. – Aber auch dann, wenn sie an nebligen Herbsttagen unsichtbar sind, übt der Sand einen eigentümlichen Stimmungszauber aus. An den KIefern hängen flatternde Nebelfetzen, und über die gelbbraune Fläche hin kriechen die fahlen Dünste, als seien sie eine Verkörperung der bösen Wünsche, die der Sand in den Herzen so vieler braver Vaterlandsverteidiger wachgerufen hat. Kein Wunder wär's, wenn die Erde hier, wie einst die schottische Heide, bei solchem Wetter Blasen triebe, die sich dem einsamen Wanderer als die Hexen aus Macbeth vorstellten und ihm allerlei nichtsnutzige Flöhe ins Ohr setzten. Aber vorbei, vorbei! Bald umfängt uns wieder das grüne Dämmerlicht des Waldes, und wenn wir wieder aus ihm heraustauchen, dann liegt, ganz in Grün gebettet, Gonsenheim vor uns, das jetzt befreit aufatmet, weil das rücksichtslos gehandhabte Monopol der „Süddeutschen“ durchbrochen und damit die Kugel beseitigt ist, die unserer Nachbargemeinde an den Fuß geschmiedet war und ihre Entwicklung zur Gartenvorstadt von Mainz sehr erschwerte.

 

Die Linienführung der Straßenbahn hat sich bis heute nicht verändert. Sie führte von der Waggon-Fabrik (1) parallel zur Alzeyer Bahnstrecke mit einer Haltestelle in der Nähe des Bahnwärterhauses (2), durch das Müllerwäldchen (3), entlang der Goedecker Flugzeugfabrik, vorbei an der Evangelischen Kirche (5) Richtung Kaiserstraße (die 2 Gleise hatte).

Skizze des Flugplatzes Gonsenheim und der Trassenführung der Straßenbahn (Mainzer Anzeiger vom 13.5.1912)